Am 8. September 2018, um 6:33 Uhr, erlebte ich meinen letzten Schmerzensschrei
und gleichzeitig deinen Ersten. Du kamst zur Welt – ein kleines Wesen, das aus einem
engen, geborgenen Raum in diese große Welt fiel. Das blendende Licht traf deine
Augen, und ich schützte sie mit einer Decke, während du auf meiner Haut lagst. Deine
Augen öffneten sich sofort, denn du wolltest diese Welt sehen – anders als alles, was
du bisher kanntest. Die neun Monate der theoretischen Vorbereitung konnten die
emotionale Achterbahn, die ich jetzt durchlebte, nicht aufhalten. “Mamasein bedeutet,
sein Herz außerhalb seines Körpers zu tragen.” Diesen Spruch verstand ich jetzt erst
richtig. Plötzlich überkamen mich Gedanken: Werde ich gut genug sein? Wirst du
glücklich sein? Wirst du stark sein? Wirst du den Widrigkeiten des Lebens mit Mut und
Optimismus begegnen?
Wir lebten in unserer eigenen Mama-Tochter-Blase. Ein Jahr lang nur du und ich. Wir
schliefen und wachten zusammen. Du schriest, und ich tröstete dich. Du wolltest
essen, und ich fütterte dich. Wir verstanden uns. Nur du, ich und ein bisschen Papa.
Wir gingen spazieren und du beobachtetest die Bäume von unten in deinem
Kinderwagen. Du sahst Blätter fallen, erlebtest den ersten Winter und das erste
Weihnachten. Die Bäume blühten, und im Sommer machtest du deine ersten Schritte.
Aus dem kleinen Wesen wurde ein kleiner Mensch, der mit Mama die Welt entdeckte.
Mal auf dem Arm, mal ein paar Schritte voraus – aber nie zu weit aus unserer Blase.
Wir gingen in Krabbelgruppen, und du lerntest deine ersten Freunde kennen, die dich
bis heute begleiten. Du mochtest keine anderen Männer außer Papa und Opa. Bei
allen anderen fingst du an zu weinen – ein einziger Blick genügte.
Der Sommer neigt sich dem Ende zu, und in meiner sonnigen Du-und-Ich-Blase ziehen
dunkle Wolken auf. Bald beginnt die Eingewöhnung in der Kita, und mein Herz wird
schwer. Es wird nicht mehr nur du und ich sein. Ein männlicher Erzieher soll die
Eingewöhnung begleiten. Die Wolken verdunkeln sich. “Wie soll das gehen? Sie mag
keine Männer.” Doch ich wusste, dass du diese Angst überwinden musst, und ich muss
lernen, loszulassen. “Wir schaffen das!” sage ich mir selbst, aber die dunklen Wolken
bleiben.
Dann kam der erste Tag – nur eine Stunde. Und die Wolken verschwanden. Micha war
da, dein Erzieher. Der erste Mann neben Papa und Opa, den du sofort akzeptiert hast.
Positiv, persönlich und einfühlsam begleitete er uns durch diese emotionale
Eingewöhnungsphase. Wir sprachen viel über Ängste, Gedanken und die nächsten
Schritte. Und du, kleiner Mensch, hast gespielt und die Kita-Welt erkundet. Nach und
nach brauchtest du mich nicht mehr rund um die Uhr, sondern nur noch 16 Stunden.
Micha, Silke und Tabea waren von Anfang an deine Erzieher. Acht Stunden, in denen
ich dich dort ließ und akzeptieren musste, dass ich nicht mehr jede Minute deines
Lebens kennen und kontrollieren kann. Aber das war in Ordnung. Jeden Morgen gingst
du fröhlich in deine Gruppe, umarmtest alle Erzieher und holtest dir auch so von
anderen Menschen Liebe und Nähe. Und ich war froh, mit ruhigem Gewissen meiner
Arbeit nachgehen zu können. Das Band zwischen uns wurde länger, und ich ließ los –
freiwillig. Du spieltest, lerntest, tobtest und lachtest. Ohne mich. In der Kita. Das gehört
zum Leben und zu dieser Welt. Deine Erzieher förderten und forderten dich, und du
wurdest immer älter. Dann kam Bine dazu. “Bine ist toll und sie kann zaubern.” Und
du? Bist glücklich.
Du wurdest zur großen Schwester. Du hast deinen Erziehern davon erzählt, dich mit
ihnen darüber unterhalten und hast auch hier gelernt, wie es ist, eine kleine Schwester
zu haben.
Nach einem Jahr hast du sie in der Kita empfangen. Mama war entspannt – nicht zu
100%, denn ihre Elternzeitblase wurde wieder größer. Aber sie wusste, dass es gut
sein würde. Und es wurde gut. Du und deine Schwester spielt zusammen in der Kita
oder auch mit euren Freunden. Mama und Papa arbeiten und vertrauen darauf, dass
ihr dort richtig aufgehoben seid. So unterschiedlich ihr seid, so wird auf euch
eingegangen.
Wenn ich Sorgen hatte, war immer jemand von den Erziehern da, mit dem ich
sprechen konnte.
Und jetzt bist du fast 6 Jahre alt. Bald geht es in die Schule, und alte Gedanken blitzen
in mir auf. Kleinere Wolken ziehen hoch. “Ich werde bald Schulkind”, sagst du stolz,
und meine heile Kitablase wird wieder größer und anders. Bist du bereit? Bin ich
bereit? Kann ich mein kleines Baby in die Schulwelt entlassen, oder hätte ich dich
zurückstellen lassen sollen?
Du wirst mit 5 Jahren eingeschult – so will es das Land, so will es der Stichtag.
4 + 8 ergibt 12, 6 – 4 ergibt 2. Deine Fingerchen zählen ab – die gleichen Finger, die
jeden Tag basteln, malen und kleben. Die jeden Nachmittag schmutzig sind vom
Spielen, vom Kindsein. Dein Gesicht ist ebenfalls schmutzig, aber hinter dem Schmutz
sehe ich ein Lächeln – in deinem Gesicht und dem deiner kleinen Schwester.
“Muss ich schon los?” fragst du. “Mama, guck!” ruft deine Schwester und zeigt mir den
Sandkuchen, den sie gebacken hat. „Hmmm, der schmeckt gut.“
Am Nachmittag erzählst du von der Kita, und ihr spielt weiter – große und kleine
Schwester zusammen.
Ich beobachte euch und die Gedanken kreisen. Wie soll das klappen? Eine in der
Schule und Eine in der Kita. Getrennt – eine neue Welt. Ich spreche mit den Erziehern
der Krippe über meine Sorgen und bin nach dem Gespräch etwas beruhigter.
Jeden Morgen geben wir euch mit ruhigem Gewissen in der Kita ab. “Sie sind wieder
fröhlich reingetappelt”, schreibt mein Mann, nachdem er euch gebracht hat. Und wenn
ich euch abgebe, ist es genauso. Ich drücke und küsse euch. Deine kleine Schwester
drückt Mandy, Nico, Jenny oder Alex – ihre Kitablase. Sie ist glücklich.
Wenn wir deine kleine Schwester abgegeben haben, gehen wir zu deiner Gruppe.
“Einmal Auflade-Knuddeln”, sagen wir immer. Du lädst dich auf, und ich tue es auch.
So sind wir wieder zusammen – kurz nur du und ich. Du räumst deine Sachen weg
und drückst Micha, Tabea, Silke und Bine – deine Erzieher, dein Team von Anfang an.
Ich weiß, du bist bereit für die Schule. Du schaffst das. Du bist vorbereitet, auch dank
deiner Kita und deiner Erzieher. Es wird Fortschritte und Rückschläge geben, und dann
spreche ich mit deinem Lehrer. Was in der Kita geklappt hat, wird auch in der Schule
funktionieren. Gemeinsam schaffen wir das.
Während ich das denke, löst du dich aus der Begrüßungsumarmung mit einem deiner
Erzieher und winkst mir zu, bevor du in die Räumen zum Spielen verschwindest.
Und ich? Ich gehe zur Arbeit und lasse meine beiden Herzen, die ich außerhalb meines
Körpers trage, hier in der Kita Sonnenschein. Beruhigt und vertrauensvoll. Ich weiß,
dass ich euch nachher wieder in die Arme schließen werde – schmutzig, aber glücklich.
Scarlett Reiche aus Beelitz